#004 – Interdependenz: Fußballgötter und die Kraft des abhängigen Entstehens – Stefan Fößel
Wer kennt das nicht: es kommt immer wieder vor, dass wir nur einen kleinen Ausschnitt einer Begebenheit wahrnehmen, uns daraus sofort eine Meinung basteln und diese dann für das einzig Richtige halten:
- Ich hab Recht, die andere Person liegt falsch
- Die andere Person ist alleine schuld, ich habe daran keinen Anteil
- Ich bin der Einzige, der die Lage richtig einschätzt, alle anderen haben keine Ahnung
- Mein Geschmack ist der beste, der von Anderen ist fürchterlich
- Wie kann die Frau meines Kollegen es nur mit ihm aushalten?
Was all diese Aussagen verbindet, ist dass wir unseren Geist auf eine bestimmte Sichtweise fixieren. Nichts anderes gelten lassen. Uns beschweren. Festgefahren sind in dem, was wir mögen und was wir nicht mögen. Uns aus dem großen Puzzle nur jene Stücke herauspicken, die in unser Konzept passen.
Und das verursacht Stress. Unglücklich sein. Wut. Selbstgerechtigkeit. Engstirnigkeit. Isolierung.
Und es führt auch dazu, dass wir eine echte Begegnung, einen tiefergehenden Austausch mit anderen verpassen.
Wie kann die Sichtweise der Interdependenz uns helfen, anderen offener zu begegnen und mehr im Einklang mit der dynamischen Komplexität zu leben, welche die Natur von allem ist?
Hier sind ein paar Punkte, die sich für mich als nützlich erwiesen haben. Natürlich müsste man über Interdependenz noch viel mehr sagen als diesen kleinen Ausschnitt. Unten findest du auch eine Kontemplation zum Download.
InterdependenzFußball ist wechselseitig abhängiges Entstehen
Wenn Dinge gegenseitig voneinander abhängen und sich beeinflussen spricht man von wechselseitiger Abhängigkeit oder auch Interdependenz.
Es ist wie in einem Fußballspiel:
Ein Spieler kann sich nicht unabhängig von allen anderen auf dem Spielfeld bewegen. Ändert er plötzlich seine Laufrichtung, überträgt sich dies auf das gesamte Spielgefüge. Reagiert ein Stürmer nicht schnell genug auf die Bewegung der gegnerischen Abwehrreihe, steht er im Abseits. Schläft dagegen der Verteidiger, ist der Stürmer entwischt. Das Spielgeschehen verlagert sich ständig von einer Hälfte des Platzes auf die andere (dies ist noch besser beim Basketball zu sehen, falls du beim Fußballschauen öfters vor Langeweile einschlafen solltest, weil ewig nichts passiert).
Auch die Emotionen auf dem Rasen und im Stadion sind abhängig entstandene Phänomene:
Der Stürmer im blauen Trikot kommt kurz vor dem Sechzehn-Meter-Raum zu Boden. Eine Hälfte des Stadions, die mit der blauen Brille auf, ruft: „Foul!!“ Die andere Hälfte mit der roten Brille ruft im selben Maße überzeugt: „Ach, das war doch nichts!!“ Der Stürmer windet sich auf dem Rasen hin und her, er erleidet offensichtlich Höllenqualen. Doch, kurz vor dem Tod fasst er neuen Lebensmut, steht abrupt wieder auf und schießt den Freistoß: Toor! Der Stürmer – eben noch in der Hölle, jetzt im Fußballgötterbereich – lässt sich feiern. Seine Fans sind völlig aus dem Häuschen darüber, wie schön es ist, sich mit den Blauen zu identifizieren. Auf der anderen Seite haben die mit der roten Brille eine krasse Fehlentscheidung gesehen, beschuldigen den Schiri und stimmen Hasstiraden gegen diesen Schwalbenkönig an. Doch das Blatt wendet sich: durch einen (aus Sicht der Blauen vollkommen ungerechtfertigten) Handelfmeter verfliegt der Endorphinrausch in Sekundenschnelle. Der Elfmeter ist drin, Glücksgefühle diesmal bei Rot, Wut auf der anderen Seite. Die Nachspielzeit bringt nichts mehr. Das Spiel ist aus, unentschieden: je nach Brille Punktgewinn oder Punktverlust undsoweiterundsofort…
So. Jetzt erst mal durchatmen. Welche ungeheure Dynamik steckt doch in der Interdependenz!
Interdependenz ist noch viel mehr
Im Buddhismus ist das Spielfeld die gesamte Welt, und das Spiel ist noch viel dynamischer und vielschichtiger.
Die ganze Welt ist ein andauerndes Entstehen und Vergehen, ein dynamischer, sich ständig wandelnder Prozess.
Der Buddha verglich das Universum mit einem riesigen Netz aus zahllosen, schimmernden Edelsteinen mit unzähligen Facetten. Jedes Juwel reflektiert in sich jedes andere im gesamten Netz und alle sind eins. Alle und alles in der Welt ist verbunden und wirkt aufeinander ein.
Ein scheinbar einzelnes Ding hat viele, viele verschiedene Ursachen und Bedingungen, die wiederum selbst viele, viele Ursachen und Bedingungen haben. Und alle sind in einem komplexen und komplizierten Muster miteinander verbunden. Doch wenn in meinem Leben irgendetwas schief läuft, mache ich oft EINE spezielle Ursache dafür verantwortlich: einen bestimmten Umstand. Oder eine bestimmte Person. Denke ich dann an diese eine Person, löst das Ärger in mir aus. Und wenn ich die ganze Geschichte wieder und wieder durchspiele, wird der Ärger noch größer und größer, weil er ständig Nachschub bekommt.
Wenn aber Umstände und Situationen in Wirklichkeit unzählige Ursachen und Bedingungen haben, ist es doch irgendwie sinnlos, EINER bestimmten Person oder Situation die Schuld zu geben.
Daran zu denken war für mich in solchen Situationen oft sehr hilfreich. Es kappt der Wut die Stromzufuhr, weil das EINE Objekt, welches das Ziel der Wut und an allem schuld war, beseitigt ist.
Die Sicht der gegenseitigen Abhängigkeit kann uns also helfen, eine weitere und offenere Haltung einzunehmen, so dass wir wohlwollender mit uns selbst umgehen und anderen keine falschen Beschuldigungen unterjubeln, nur weil wir eine bestimmte Brille aufhaben.
Eine angeleitete Kontemplation zu Interdependenz
Ich möchte dich nun auf eine kurze Kontemplation einladen, die ich für dich aufgenommen habe. Hier findest du das Audio zum Abspielen und Downloaden. Suche dir einen schönen Platz, und mache es dir bequem, in deiner bevorzugten Meditationshaltung.
Über Stefan Fößel
Stefan arbeitet im Bereich Klimaschutz und ist langjähriger Praktizierender im der tibetisch-buddhistischen Tradition. Er hat das siebenjährige Heimstudium der Rigpa-Sangha abgeschlossen und ist seit vielen Jahren Kursleiter von Meditationskursen und anderen Rigpa-Veranstaltungen. Er lebt seit 2007 im Dharma Mati als Teil der spirituellen Wohngemeinschaft.
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Die Vortragenden sind praktizierende Buddhisten und sprechen aus ihrer eigenen Erfahrung damit meditieren zu lernen – wir begleiten sie also auf ihrer Entdeckungsreise, welche Bedeutung eine über 2500 Jahre alte indische Lehre in ihrem Leben als (post-) moderne Menschen im Westen hat.
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